Publikationen

Christina Müller

Ostwind

Es muß sich schon vorher angebahnt haben, aber leibhaftig, sozusagen, ist er Caroline erst in dieser Bibliothek begegnet. Die Bibliothek steht etwa 2000 Kilometer östlich von Berlin. Sie hat inzwischen ihren Namen geändert, so wie das Land seinen Namen geändert hat. Es hat, als wäre inzwischen nichts geschehen, seinen alten Namen angenommen, der ihm vor mehr als siebzig Jahren weggenommen wurde. Der alte Name klingt altertümlich. Sein Geschlecht, in seiner Muttersprache, ist weiblich. Er klingt mütterlich. Er klingt nach all dem, was mit der Namensänderung abgeschüttelt werden sollte: der Zar, die Leibeigenschaft, die Ansammlung von Reichtümern und die Armut; die Religion. Er klingt nach endlosen Weiten und nach Birken, die sich im Winde wiegen, nach listigen Bäuerlein, farbenfrohen Dorfschönen und Tanzliedern in Moll.

Rossija – Rußland.

Aber die Namensänderung fand erst später statt. Begegnet ist er Caroline in der Bibliothek der Stadt B., am Rande der Russischen Sowjetrepublik, im Herzen der Sowjetunion.
Im August 1986 reiste Caroline mit den anderen Studentinnen aus der DDR in die Sowjetunion, um Mütterchen Rußland in ihr zu finden, ihr in die melancholische Seele zu schauen und nebenbei die Fähigkeit zu erwerben, die fremdartigen und zum großen Teil zischenden Laute ihrer Sprache zu möglichst sinnerfüllten Sätzen zusammenzubauen.
Vorangegangen war dem ein Prolog, bei dem er, wie gesagt, schon dabeigewesen sein muß. Nur hat sie ihn nicht erkannt, weil sie damals noch nicht wußte, woran man ihn erkennt, und überhaupt zu verwirrt war, um irgend etwas zu erkennen.

Roman

Sammlung Gegenwartsliteratur. Band I

Newcomer-Verlag, Erfurt/Magdeburg
Broschur, 289 Seiten
ISBN 3-931069-08-7

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